D) Einige technische Details Schweizer E-Loks aus der Epoche der E71
Wenn man den groben Schnitzer mit den Antriebsmaschinen außer Acht lässt, war die E71 also eine durchaus richtungsweisende Konstruktion. Das zeigt sich auch, wenn man die Details von Schweizer E-Loks aus der gleichen Zeit studiert, deren früher Höhepunkt das berühmte "Krokodil" war. Man sollte bei der nachfolgenden Darstellung einiger Probleme bei den Schweizer Loks jedoch keine heimlichen Wertungen zu Gunsten der E71 vornehmen, da bedacht werden muss, dass die E71 mit ihrer begrenzten Maschinenleistung eher für den Einsatz im flachen Land konzipiert war. Auch war die Höchstgeschwindigkeit mit 50 km/h ursprünglich sehr niedrig bemessen. Entsprechend hat die E71 auch nur 4 Achsen, die alle angetrieben sind. Die Schweizer Loks mussten für den Gebirgseinsatz wesentlich leistungsstärker ausgelegt werden. Daher haben die nachfolgenden Loks (bis auf eine Ausnahme) einschließlich eventueller Laufachsen mindestens 6 Achsen.
Ich habe versucht, etwas Systematik in die frühen E-Lok Konstruktionen der Schweiz zu bringen, damit die Angelegenheit nicht zu unübersichtlich wird. Unter 1) werden die Probeloks und die endgültige Serienlok für die Strecken der BLS dargestellt. Unter 2) folgen die 4 Probeloks der SBB für die Elektrifizierung des Gotthard. Und unter 3) handele ich die beiden endgültigen Gotthardloks ab. Unter 3b) findet sich schließlich das für die Krokodile namensgebende Gotthard-Krokodil.
In den Abschnitten 1) und 2) kann ich für die jeweils besprochenen Loks keine eigenen Bilder beisteuern. Ich habe daher bei jeder Lok einen Link auf ein passendes Bild beigefügt, damit man sich schnell einen Eindruck vom Aussehen machen kann.
Ich benutze im Folgenden die neueren Bezeichnungen für die Schweizer Elektrolokomotiven, weil die älteren hier in Deutschland wenig geläufig sind. Viele der folgenden Loks wurden aber noch unter der alten Bezeichnung in Betrieb genommen.
1) Die frühen E-Loks der BLS (Berner Alpenbahn-Gesellschaft Bern–Lötschberg–Simplon)
Die BLS strebte die Elektrifizierung ihrer Bergstrecken noch vor der SBB an. Für den Versuchbetrieb wurde 1910 als Probelok für den Güterzugverkehr die BLS Ce 6/6 ausgeliefert (Bildlink). Die Lok ist also nochmals 4 Jahre älter als die EG 511 (E71). Die Ce 6/6 hatte 2 dreiachsige Drehgestelle, wobei alle Achsen angetrieben waren. Je Drehgestell war eine 1000PS Reihenschlussmaschine montiert. Die Gesamtleistung war damit viel höher als die der EG 511. (Anmerkung: Die BLS Ce 6/6 darf nicht mit der SBB Ce 6/6 14101 verwechselt werden, welche 1919 von der SBB als längst veraltetes Einzelstück aus Deutschland eingeführt worden war!)
Der Antrieb vom Motor auf die Blindwelle erfolgte bei der BLS Ce 6/6 bereits mit einem Zahnradgetriebe. Die weitere Kraftübertragung auf die Radsätze erfolgte mit einem Schrägstangenantrieb.
Die Zug- und Stoßeinrichtungen waren an den Drehgestellen montiert, jedoch besaßen die Drehgestelle keine Kurzkupplung untereinander, wie später etwa bei der EG 511. Stattdessen wurden die Kräfte bei der Ce 6/6 über Längsträger zwischen den beiden Drehgestellen übertragen. (Das Lokgehäuse war fest auf diesen Trägern montiert.) Die genannte fehlende Drehgestellkupplung, ein kurzer Drehzapfenabstand der Drehgestelle sowie eine Massenkonzentration in der Mitte des Lokkastens über den Längsträgern führten dazu, dass Drehgestelle und Lokkasten zum Schlingern neigten. Aus den gleichen Gründen hatte die Lok auch einen sehr harten Bogeneinlauf. Daher musste die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 60km/h herabgesetzt werden. Die Ce 6/6 hatte sich also als Probelok nicht bewährt und wurde daher nie in Serie produziert.
Interessanterweise hatte ein Konsortium von AEG und Krauss im Jahre 1909 die zweite Probelok abgeliefert. Sie hat in der Schweiz nur die ältere Bezeichnung BLS Fb 2x2/3 erhalten (Bildlink). Diese Lok hatte bereits eine vorgespannte Kurzkupplung zwischen den beiden Lokhälften, was ihr gute Laufeigenschaften einbrachte. Damit war sie der Ce 6/6 weit überlegen. Leider hatte man jedoch auf Winter-Eichberg Fahrmotoren gesetzt, und zwar einen Großmotor je Lokhälfte. Diese Motoren hatten eine extrem hohe Blindleistungsaufnahme beim Anfahren, was letztlich der Hauptgrund war, dass die Lok wieder an die Hersteller zurückgegeben wurde.
Wie bereits unter C) erwähnt, war die AEG bei ihrem Einstieg in den E-Lokbau als Hersteller der elektrischen Komponenten an Konsortien für die Produktion von Probeloks beteiligt. Bei diesen Probeloks gab es ganz generell immer wieder Fehlkonstruktionen. Eine dieser Loks war genau die eben behandelte BLS Fb 2x2/3. Da die Fahrmotoren bereits hier der Hauptgrund für die Disqualifikation der Lok waren, ist es wenig verständlich, dass die EG 511 - also die spätere E71 - im Jahre 1914 von der AEG erneut mit lediglich weiter entwickelten Winter-Eichberg Fahrmotoren ausgestattet wurde. Wie bereits unter C) dargestellt, war dies eine kostspielige Fehlentscheidung der AEG!
Obwohl man bei der BLS mit der obigen Fb 2x2/3 bereits eine Lok mit vorgespannter Kurzkupplung getestet hatte, kam man für die Serie nicht auf die Idee, eine solche Kurzkupplung zwischen die Drehgestelle einer Ce 6/6 zu bringen. Stattdessen griff man für die Serie ohne einen vorherigen Prototyp wieder auf ein Starr-Rahmenkonzept zurück. In Serie wurde damit dann im Jahre 1913 die BLS Be 5/7 produziert (Bildlink). Sie war eine Universallok für Personen- und Güterzüge, was durchaus zukunftsweisend war.
2) Die 4 Probeloks der SBB für die Elektrifizierung des Gotthard
2a) Das Herstellerkonsortium MFO und SLM hatte 1919 ledigl. eine abgespeckte Version der zuletzt behandelten BLS Be 5/7 für den Probebetrieb vorgesehen, nämlich die SBB Be 3/5 12201 (hier noch der Bildlink). Als Starr-Rahmenlok musste die Zahl der angetriebenen Achsen für die engen Kurven des Gotthard auf 3 reduziert werden. Das hatte jedoch zur Folge, dass die Lok für das übrige Anforderungsprofil am Gotthard viel zu schwach ausgelegt war. Sie wurde daher nie dort eingesetzt.
2b) - 2d) Die übrigen 3 Probeloks der SBB waren allesamt Drehgestell-Lokomotiven, um die engen Kurven des Gotthard bewältigen zu können. Für diese 3 Loks hatte man sich an den Erfahrungen der BLS mit deren Probelok Ce 6/6 (vgl. oben bei 1) ) orientiert. Inzwischen hatte man aus den Problemen dieser Lok gelernt. Daher waren alle 3 nachfolgenden Lokomotiven als Brückenrahmenloks mit gekoppelten Drehgestellen ausgeführt worden. Das entsprach jetzt dem Konzept der EG 511 (E71) von 1914. Mit dieser Konstruktion waren für alle 3 Loks keine Probleme beim Geradeaus- oder Kurvenlauf zu erwarten.
2b) Die Schnellzuglok SBB Be 4/6 12301 wurde 1919 ausgeliefert (Bildlink). Sie hatte 2 Drehgestelle mit jeweils 2 angetriebenen Achsen und einer Laufachse. Interessanterweise entsprachen Treibraddurchmesser und Achsstand der Antriebsachsen in jedem Drehgestell exakt der EG 511 (E71)! Auch die letzte Stufe der Kraftübertragung erfolgte hier - wie schon zuvor bei der EG 511 - über eine Schlitzstange. Da die Lok jedoch wegen der hohen Antriebsleistung 2 Fahrmotoren je Drehgestell benötigte, mussten Fahrmotoren, Getriebe und Blindwelle aus Platzgründen höher gelegt werden als bei der EG 511 (Blindwelle jetzt 120mm über Radsatzmitte statt nur 70mm). Grundsätzlich hatte die Lok durch den Schlitzstangenantrieb eine sehr gute Laufruhe.
Der auf dem Brückenrahmen montierte Lokkasten hatte ledigl. einen kleinen Vorbau je Seite. Dieses Aussehen hätte natürlich niemals zu dem Spitznamen "Krokodil" geführt. Da die kurzen Vorbauten eher an einen Dutt erinnern, trug die Lok den Spitznamen "Großmutter".
2c) Die zweite Schnellzuglok, die SBB Be 4/6 12302 von 1919 (Bildlink), war sehr ähnlich konstruiert wie die obige. Jedoch wollte man auf die hohen Wartungskosten des Schlitzstangenantriebs verzichten. Um Fahrmotoren, Getriebe und Blindwelle so tief legen zu können, dass die Blindwellenachse auf eine Höhe mit den Treibachsen kam, musste der Achsstand der beiden Treibachsen in den Drehgestellen um 40cm vergrößert werden. (Der Treibraddurchmesser war gleich geblieben.) So konnte auf die Schlitzstange zu Gunsten einer einfacheren Konstruktion verzichtet werden. Die Laufeigenschaften verschlechterten sich damit gegenüber der Be 4/6 12301 jedoch wesentlich.
Der Lokkasten hatte bei dieser Lok keinen Vorbau.
2d) Die Güterzuglok Ce 6/8 I konnte wegen Problemen erst Ende 1919 in Betrieb gehen (Bildlink). Sie war am stärksten an die BLS Ce 6/6 (vgl. 1) ) angelehnt. Die Drehgestelle hatten 3 angetriebene Achsen und zusätzlich noch eine Laufachse. Wieder trieben 2 Fahrmotoren je Drehgestell über ein Getriebe die Blindwelle an. Der Rest der Kraftübertragung erfolgte dann mit einem Winterthur-Schrägstangenantrieb. Leider war es bei der Konstruktion zu einer extrem unterschiedlichen Verteilung der Last auf die angetriebenen Achsen gekommen. Es gab Achslastunterschiede von über 5 Tonnen! Das stellt für die verbindende Kuppelstange eine extreme Belastung dar und war daher für eine Serienlok ungeeignet. Trotzdem hat diese eine Probelok im Laufe ihres Einsatzlebens immerhin 2,5 Millionen Kilometer zurückgelegt!
Der Lokkasten sah ähnlich aus wie bei der obigen Be 4/6 12301 (vgl. 2b) ), hatte also auch 2 kurze Vorbauten, die hier jedoch an den Drehgestellen befestigt waren. Da diese kurzen Vorbauten wie ein Koffer aussehen, hatten sie der Lok den Spitznamen "Köfferlilok" eingebracht. Alternativ war auch der gleiche Spitzname wie bei der Be 4/6 12301 üblich, nämlich "Großmutter".
3) Die beiden Serienloks der SBB für den Gotthard
Da während der Kohlenkrise infolge des 1. Weltkrieges der Dampflokbetrieb stark eingeschränkt werden musste und andererseits noch nicht genügend E-Loks vorhanden waren, hatte die SBB noch vor Auslieferung der 4 Probeloks und ledigl. aufgrund einer Beurteilung der 4 Konstruktionsentwürfe die beiden endgültigen Serienloks bestellt. So kam es dazu, dass die erste Serienlok noch vor der letzten Probelok in Betrieb gehen konnte!
3a) Für Schnellzüge hatte man sich weitgehend an der Probelok Be 4/6 12302 (vgl. 2b) ) orientiert. Die Serienloks gingen ab 1920 als SBB Be 4/6 12303-12342 in Betrieb:
(Abb.7)
Gegenüber der genannten Probelok wurde der Treibraddurchmesser deutlich erhöht. Auch wurde das Gestänge noch etwas geändert. Mit der Kostenersparnis für eine möglich gewesene Schlitzstange hatte man nun auch für die Serie unruhigere Laufeigenschaften in Kauf genommen.
3b) Für die Güterzüge hatte man jedoch auf eine völlige Neukonstruktion gesetzt, weil wegen der Achslastunterschiede der Probelok Ce 6/8 I (vgl. 2d) ) zu große Probleme für die Serie erwartet wurden. Um die Achslast besser verteilen zu können, wurden die Drehgestelle zunächst umgedreht. Damit rückten die Drehzapfen aber enger zusammen. Man hat sie dann letztlich so weit wie irgend möglich auseinander gelegt. Zur weiteren Verbesserung der Gewichtsverteilung wurde der Lokkasten auf Hochspannungskammer und angrenzende Führerstände reduziert. Die übrigen Aggregate wurden auf die beiden Drehgestelle verteilt, welche nur im nötigsten Maße verkleidet wurden, damit der Lokführer eine hinreichende Sicht auf die Strecke behielt. Dieses mechanische Gesamtkonzept entsprach nun genau der EG 511 (E71)! Da die Drehgestellverkleidungen sehr lang und schmal geworden waren, bekam die 1919 ausgelieferte Serienlok SBB Ce 6/8 II im Volksmund den Spitznamen "Krokodil":
(Abb.8)
Da man die Probelok Ce 6/8 I noch nicht getestet hatte, hatte man Befürchtungen, dass der Winterthur-Schrägstangenantrieb Probleme bereiten könnte. Aus diesem Grunde wurde die Schrägstange gegen einen Dreiecksrahmen ausgetauscht, der eine weitere, und zwar frei drehende Blindwelle erforderte. Bei dieser Art von Dreiecksrahmen handelt sich um eine Sonderform der Schlitzstange. Kuppelnde Stangen zu den weiteren angetriebenen Radsätzen waren aber weiterhin zusätzlich erforderlich:
(Abb.9)
Der Aufwand war dadurch also deutlich vergrößert worden. Gute Erfahrungen mit Schrägstangenantrieben bei anderen Loks führten dazu, dass die Krokodile der 2. Serie ab 1926 dann doch Schrägstangenantriebe erhielten (SBB Ce 6/8 III):
(Abb.10)