Hallo,
eine ziemlich unscheinbare Annonce in einer Münchener Zeitung von 1860 machte mich neugierig. Dort bot eine Familie gebrauchtes Spielzeug an, darunter eine Eisenbahn. Es war bestimmt nicht die von Goethe, aber immerhin eine Eisenbahn und das im Jahr 1860.
Danach fand ich im "Münchener Anzeiger" vom 23.12.1864, also zwei Tage vor Weihnachten, eine Annonce des "Spänglers A. Frank" in der Dienersgasse 13, der Blecheisenbahnen zum Kauf anbot.
Auf der weiteren Suche las ich dann einen Artikel über "Die deutsche Spielwaaren-Industrie". Hochinteressant !
Ich habe den Beitrag aus der Frakturschrift "übersetzt", damit es alle lesen können. Die manchmal gewöhnungsbedürftige Schreibweise von 1869 wurde beibehalten.
So, nun geht es los:
Bayerische Landeszeitung
Morgenausgabe
29.12.1869
Die deutsche Spielwaaren-Industrie.
Auf allen Märkten der Welt, selbst wo deutsche Sprache und Sitte viele hundert Meilen schon aufgehört haben, Eins ist aus unserem Vaterlande vorzufinden: die deutschen Spielwaaren. Als das chinesische Reich mit englischen Kanonen geöffnet, als Japan durch das ebenso stattliche als bedrohliche Geschwader des Commodore Perry zu einem Freundschafts= und Handelsvertrage bewogen worden war, und die ersten Deutschen auf den dortigen Märkten eintrafen, da war ihnen das deutsche Spielzeug längst vorangeeilt. Und selbst der fromme Missionär an der Küste Ostafrikas, der auf den Lippen das Evangelium, in der rechten Hand die „Taschenapotheke“ hat, in der linken Hand hält er einige Spielwaaren für die kleinen Zulus oder Buschneger bereit, um für seine ersten Besuche Friede und Freundschaft auf dem Umwege durch die Kinderherzen sich zu verschaffen.
Millionen von Kinderaugen erglänzten in diesen Tagen in vollem Strahlen nach dem „Nürnberger Tand“ am erleuchteten Christbaume, den ihnen Aelternliebe angezündet und reich behangen hatte. Und so möge in der Feststimmung dieser hohen Zeit der Freude, in welcher das Wort „Kindersegen“ sich wie nie mehr im Jahre fühlbar macht, nach der irdischen Seite der oft beengenden und bedrängenden Ausgaben sowohl, wie nach der seelischen des Glücksgefühl durch den Besitz von Kindern, in dieser Feststimmung, in der jenes Bibelwort allüberall so ganz wahr wird, „Geben ist seeliger als Nehmen“, die sonst trockeneren Gegenstände zugewendete Feder einmal eine Skizze der Spielwaaren-Industrie Deutschlands zu geben sich bereiten, dieses ebenso anziehenden wie großartig entwickelten wirthschaftlichen Zweiges deutschen Fleißes und kaufmännischer Intelligenz. Das Weihefest zartester Liebe gegen die kleine Welt und die Concentration alles Dichtens und Trachten auf die Vorbereitungen zum heiligen Abend läßt uns gerne einmal die politischen und ökonomischen Kämpfe und Interessen für einige Stunden vergessen.
Die Metropole dieses Zweiges industrieller Geschicklichkeit und Emsigkeit ist seit Jahrhunderten Nürnberg, welches namentlich seit dem Ende der deutschen Freiheitskriege in steigender Entwicklung begriffen und gegenwärtig zu einer Blüthe gelangt ist, welche den Platz in den Stand setzt, seine Spielwaaren direkt oder durch Zwischenhändler nach den entferntesten Punkten des Weltmarktes zu führen. Doch ist diese alte industriereiche Stadt nicht alleine im Besitz der Branche geblieben, sondern andere Gegenden sind in Wettstreit mit ihr getreten. Es liefert heutzutage die deutsche Industriebranche auf ihrer Höhe nicht nur erstaunlich billige Waaren, sondern zu hoher Ehre unserer Arbeiter, zugleich so erfinderisch und sein ausgedachtes Sächelchen, daß man bei einem Spaziergange durch die Lager und Werkstätten nicht umhin kann, Einzelnem aus dem „Tand“ wegen seiner sinnreichen Construktion seine offene Bewunderung zu zollen. Ich erinnere nur an das auf Stelzen allein die Treppe hinuntergehende Männchen, das sich obendrein noch auf jeder zweiten Stufe überschlägt. (Merkwürdigerweise wird ganz dasselbe Spielzeug auch in altrömischen Schriftstellern erwähnt.)
In Nürnberg sind nicht weniger als 120 Werkstätten für die Branche im Gange, in denen über 1000 fleissige und geschickte Hände alle jene vielfachen Gegenstände aus Holz, Papiermaché, Guttapercha und anderen Stoffen wie z.B. den verschiedensten Metallen anfertigen. Alles arbeitet sich hier nach dem Gesetz breitester Arbeitstheilung gegenseitig in die Hände. Die verschiedensten Gewerbe helfen dabei mit, wie z.B. zahlreiche Werkstätten von Buchbindern und Tischlern, Papierfabriken, Farbwaarenhandlungen ec.
Der Thüringer Wald und das sächsische Erzgebirge, beides Distrikte mit sehr dichter, armer Bevölkerung, haben im Laufe des letzten Jahrhunderts ebenfalls eine Bedeutung für Spielwaaren-Verfertigung gewonnen; sie liefern meist jene zum Verwundern billigen menschlichen Figuren und Thiergestalten aus Holz mit Bäumen, Häusern, Ställen, Kirchen ec. in Schachteln verpackt, während Nürnberg vorzugsweise die kleinen Geräthschaften und Gegenstände anfertigt, welche höher im Preise kommen und schon für Kinder besser situierter Aeltern bestimmt sind so z.B. Eisenbahnzüge, Lokomotiven, Waggons ec.
Neben jenen circa 120 Werkstätten beschäftigt Nürnberg noch etwa 50 Drechslereien. Ferner werden in über 80 Klempnerwerkstätten allerlei Blechspielwaaren in großen Massen produciert: Trompeten aller Art, Kähne, Kochheerde, Kindersäbel ec. Auch Zauberlaternen liefert man mit Hilfe verbesserter Maschinen jetzt in vorzüglicher Güte. Einige Fabrikanten arbeiten nur Springbrunnen=Arrangements, Mühlen von Wasser getrieben, blecherne Kähne, Schiffe, Schwimmvögel, Fische mit magnetischen Fangnadeln, kleine Carousells, menschliche Genrefiguren, Carrikaturen, Thiergruppen u. dgl. Was die plastische Naturwahrheit der Figuren und Gruppen anbelangt, so hat sich die Schnitzerei und Formerei seit den letzten 10 Jahren ebenso gehoben, wie der Geschmack des Publikums die Forderungen jetzt höher stellt. Wie weit die Kunstfertigkeit in den Werkstätten geht, zeigt auf der Münchener Ausstellung ein genaues Modell des Schraubenschiffs „Wellington“ mit 131 Kanonen (aus Blech). Es ließ sich das Deck abnehmen und das Innere besehen; kein Raum war vergessen. Auf der Londoner Ausstellung erregten namentlich die eleganten Miniatur=Equipagen, sowie deren billige Preise Aufsehen. Durch die Anmuth der Form haben die deutschen Spielwaaren selbst den französischen Fabrikanten längst den Rang abgelaufen.
Mit dem Aufschwung der Thonwaaren=Fabrikation ist die Zinngießerei sehr in Abnahme gekommen. Während letztere früher eine sehr bedeutende Ausdehnung hatte, da die kleinen Teller, Geschirre, Löffel für die Kinder=Puppenstuben meist aus Zinn waren, hat die Thonwaaren=Fabrikation derartige Sächelchen die Zinngießerei aus vielen Städten ganz zum Weichen gezwungen. Nürnberg hat heutzutage nur noch circa 20 Zinngießer aufzuweisen, die sich mit Anfertigen von Soldaten, Uhren, Schmuck, Möbeln ec. beschäftigen.
Die größeren Fabrikanten verarbeiten jährlich 150 Centner des Metalls und beschäftigen 50-60 Mädchen. Doch könnte die doppelte Zahl Arbeit finden, wenn nicht so wenige acurate Arbeiterinnen vorhanden wären. In der Acuratesse nimmt es aber gerade die Nürnberger Industrie sehr genau, und dem hat man es zu danken, daß das Nürnberger Fabrikat dem Berliner und Kasseler an Schönheit und Richtigkeit der Zeichnungen weit voraus ist.
Wie man es gegen früher zu einer großen Vollendung in Form und Malerei gebracht hat, so bekundet gegenwärtig der Umstand die Zeichen der Zeit, daß man nicht mehr die Figuren allein aus der Soldatenwelt nimmt, sondern auch aus der Naturgeschichte und dem täglichen bürgerlichen Leben. Das Spielzeug ist hiedurch zu einem außerordentlichem Lehrmittel geworden für die ganze kleine Kinderwelt. Diese große Bedeutung des „Nürnberger Tands“ hat neben dem Zwecke des Zeitvertreibes unstreitig den deutschen Fabrikanten die Märkte der Schweiz, Italiens, Frankreichs, Englands, Amerikas und aller überseeischen Ländern erobern helfen. Und dieses Streben nach Vervollkommnung der Erziehungszwecke für Anregung des Denkens in den jungen Weltbürgern auf dem Wege des Anschauungsunterrichts ist mit jedem Jahre lebendiger und stärker geworden. Hierdurch haben die „Nürnberger Jugendspiele“ ein klassisches Ansehen errungen und die Erfindungsgabe ist in Wahrheit auf diesem weiten Feld bewundernswürdig.
Außer den allgemein bekannten Kinder= und Gesellschaftsspielen bringt man bald die mathematischen Grundverhältnisse fester Körper, bald die architektonischen, konstruktiven Schönheits=Verhältnisse zur Anschauung und es werden in letzterer Beziehung alle Style, vom griechischen herab bis zur Renaissance in den Baukästen vorgeführt. Seit einer Reihe von Jahren spielen neben den Baukästen auf dem selben Gebiet die Modellirbogen eine bedeutende Rolle.
Nicht weniger mannigfaltig sind die geschichtlichen Spiele, in denen die historischen Persönlichkeiten spielend dem Verstande der Kinder bekannt gemacht und und dem Gedächtniß eingeprägt werden. Auch die Lehren der Physik weiß man für die Jugend ebenso geschickt als instruktiv zu verwerthen. Selbst Lokomotiven baut man jetzt schon in Massen, sowie stehende Dampfmaschinen mit Spiritusflammen heizbar und leicht in Gang zu setzen. Gegen ein Halbhundert Fabrikanten beschäftigen sich in Nürnberg ausschließlich mit Erfinden und Anfertigen von Jugendspielen, und die Fabrikate nehmen einen steigenden Absatz auf allen Weltmärkten. Bemerkenswerth sind auch die sogenannten „Sandwerke“, meistens humoristische Bilder mit beweglichen Figuren, Affenkonzerte, Scheerenschleifer, Schuster, Zank= und Prügelscenen, Pepitas, Dukatenmacher und andere produktive possierliche Individuen. Auch diese Sachen haben sich längst Popularität im Volke erworben und zeichnen sich durch erstaunliche Billigkeit aus.
Nürnberg zur Seite steht das ihm benachbarte Fürth, das ebenfalls alle angeführten Spielsachen liefert, und zwar meistens für Nürnberger Firmen.
Der Hauptsitz der thüring'schen Spielwaaren=Fabrikation ist das kleine, meining'sche Städtchen Sonneberg mit zahlreichen Dörfern in der Umgebung, auf denen Alle, selbst Weiber und Kinder nicht ausgeschlossen, mit bienenartigem Fleiße schnitzen und hämmern und nageln und malen. Schon 1735 war hier diese Kunst sehr mannigfach und ein Musterbuch aus diesem Jahre führt bereits auf: Schiefertafeln, Griffeln, Wetzsteine, Spritzen, Gewürzschränkchen und Kästchen, Schachteln und Schächtelchen in jeder Größe, Salz= und Mehlfäßchen, Schreibzeuge, Nähpulte, Köfferchen, hölzerne Kinderdegen, Flinten, Pfeifen, Kegelspiele, Klappern, Kukuks, Schnurren, Nußknacker, Spiegel, Hemdknöpfchen, Bleistifte, Bilderrahmen, Wandleuchterchen u.s.w. Später wurden noch kleine Spielkugeln von Muschelkalk in großer Menge geliefert. Sonneberger Kaufleute siedelten sich über in unsere Nord= und Ostseehäfen, nach Riga, Petersburg, skandinavischen und amerikanischen Ländern, England und Frankreich.
Da das ungefügige Holz die Köpfe der Puppen und Formen der Thiere nur schwierig und unvollkommen darstellen ließ, wendete man in neuerer Zeit plastische Masse an, Papiermaché, Steinpappe ec. Entweder ausschließlich oder auch in Verbindung mit Holz. Damit war aber wieder die Bahn für einen völlig neuen Industriezweig gebrochen, die eigentliche Holzschnitzerei trat in den Hintergrund. Die plastische Bildnerei, das Bossiren von allerlei Spielzeug und Nippsachen der niedlichsten und unendlich mannigfachen Art wurde immermehr ein Hauptgeschäft. Um den gewerblichen Betrieb bei der Zunahme der Absatzwege noch lohnender zu machen, bildeten sich wieder Arbeitstheilungen, besondere Special=Fabrikationszweige aus, z. B. diese ausschließlich für Puppen, jene nur für Thiere ec. ec. Man ging weiter zu anderen Materialien über, zu Leder, Guttapercha, Porzellan, Glas ec., ältere, sonst flottbetriebene Geschäfte verkümmerten und gingen unter dem Wechsel der Mode und dem Gange des Fortschritts ganz ein, wie Brieftaschenmacher, Schwarzblecharbeiter ec. Selbst die Künste der Malerei, Bildhauerei, des Modellirens wurden jetzt immer bedeutender, die Musik wurde herangezogen und sehr vervollkommente Kinder=Blasinstrumente, Orgeln, kleine Pianos kamen in Aufnahme.
Die Industrie dehnte sich allmälig über das ganze meining'sche Oberland im Umkreis mehrerer Quadratmeilen aus. Im Jahre 1840 zählte man hier bereits 264 Drechsler und Holzschnitzer, 111 Papiermaché=Arbeiter, 31 Dockenmacher, 44 Bossirer ec. Daneben machen andere nur Kisten und Schachteln jeder Façon und Art. Geigen, Drehorgeln, Steinwaaren, Schiefertafeln, Griffeln, Wetzsteine, Porzellan= und Glaswaaren ec. Schon im genannten Jahre beschäftigten sich in Sonneberg und Umgegend 7000 Menschen lediglich mit Anfertigen von Spielsachen. Seitdem ist die Bevölkerung durch das Aufblühen des Industriezweiges rasch gewachsen. Sonneberg hatte vor 50 Jahren 1800 Einwohner, heute über 6000, aus dem schlichten Gewerbe ist ein rationell betriebener kaufmännischer Großbetrieb und Welthandel geworden. Die Vielseitigkeit der Arbeit geht ins Erstaunliche. Reiche und arme Provinzen und Länder beziehen verschiedene Waaren; Amerika, Java, Australien bezieht teure Fabrikate. In Europa ist England der beste Nehmer. Welchen Umfang der Verkehr und Versandt hat, zeigt die Thatsache, daß im Jahre 1861 auf der Werrabahn 463,000 Centner hin= und hergingen, und zwar fertige Spielsachen im Gewichte von 266,514 Centner (58,77 Prozent) nach den verschiedenen Märkten, 186,007 Centner (41,22 Prozent) kamen auf die Einfuhr von Hölzern, Rohstoffen und Hilfsmaterialien aller Art für die Fabrikation. Um sich einen Begriff von der Vielseitigkeit derselben zu machen, mag schließlich erwähnt werden, daß Sonneberger Firmen ihren Reisenden Musterbücher, bis 16,000 verschiedene Nummern enthaltend, mit in die Welt geben.
Schönen Gruß
Udo