Der ernsthafte Sammler ist bemüht, Stücke des Herstellers seines Fachgebietes aus der Frühzeit
seiner favorisierten Firma zu erwerben, sind diese einfach wegen der verstrichenen Zeit, nicht häufig zu finden und gerade deshalb sehr begehrt, zu anderen vermitteln sie einen Einblick in die Fertigungstechniken und nicht zuletzt üben sie, gerade wegen des Alters, eine besondere Anziehungskraft aus.
Da Schrift- und Katalogmaterial über uralte Modelleisenbahnen kaum bekannt, bzw. verfügbar ist, gibt es häufig Unsicherheiten bei der Zuordnung des jeweiligen "uralten Stückes" zum Hersteller.
Dies soll an dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden.
Flüssig-Spiritus beheizter, dampfbetriebener Bodenläuferzug, um 1895
Der abgebildete Zug konnte im Schweizer BERN 1983 bei einem Antiquitätenhändler erworben werden. In dem Karton befand sich auch die originale Betriebsanleitung, die vom Papierzustand kaum lesbar war.
Dieses Papier wurde von Jeannine dit-Quartier, ehemals Claude Jeanmaire, bearbeitet und in ihrem Buch „Gebrüder Bing, Spielwaaren 1898“, auf den Seiten 275-277, jetzt in schwarz-weiss gut lesbar, ( Dank dafür), wiedergegeben.
Vom Eigentümer wurde der Zug wegen des unansehnlichen Zustandes, ( Lackverlust, Rostflächen, ein fehlender Puffer frontal, gelöste Lötverbindungen, fehlende Kupplungsteile, usw.) in der Farbgebung der noch definierbaren Farbreste neu gefasst. Der fehlende Tender wurde rekonstruiert, nachdem eine Bildvorlage dieser Zuggattung in dem Buch „Blechspielzeug Dampfspielzeug, Battenberg Sammlerkatalog“, Seite 270 gefunden wurde.
Beschreibung:
Es handelt sich um einen dampfbetriebenen, flüssigspiritusbeheizen Bodenläuferzug in der Spurweite 64 mm mit Antrieb durch 2 oszillierende Zylinder. Kesseldurchmesser 52 mm. Zuglänge: 50 cm. Die Räder der Lok sind ausgestanzt und bestehen aus 1,5 mm starkem Messingblech, haben keine Spurkränze, sind so für den nicht schienengebundenen Bodenfahrbetrieb konzipiert. Raddurchmesser hinten: 53 mm, vorn 48 mm, sodass dadurch diskret ein angedeuteter „Stochenbeineindruck“ entsteht. Die Zinngussräder des Wagens und des Tenders haben jeweils 6 Speichen und einen Durchmesser von 37 mm, sind ebenfalls ohne Spurkranz ausgeführt. Im Führerhaus der Lokomotive ist links ein Stellhebel montiert, mit dem über einen Stangenmechanismus die vordere Achse radial um maximal 10 Grad verstellt werden kann. Hebelstellung vorn: Geradeausfahrt, Hebelstellung in drei Einrastungen nach rückwärts geführt: Achse dreht nach rechts um maximal 10 Grad, um so die Fahrt im Kreis rechts herum zu bewirken. Eine Linksfahrt ist nicht einstellbar, nicht möglich. Die Rauchkammertür ziert das Bing-Bavaria-Emblem in großer, ovaler, älterer Ausführung ohne Sternkranz. (Längsdurchmesser: 31 mm, quer: 20 mm)
So, nach Sichtung der verfügbaren Literatur fängt nun die Unsicherheit an, ob Bing tatsächlich der Hersteller dieses Bodenläufers war.
Reder stellt in seinem Buch: Mit Uhrwerk, Dampf und Strom auf Seite 27 in Abbildung 37 unter „Dampfbahnen Alt-Nürnberger Stiles" einen schienengebundenen Zug vor, den er auf Grund des Erscheinungsbildes und der technischen Ausführung Bing zuordnet, sogar mit dem Hinweis, Zitat: dass „Bing diese schienengebundene Lokomotive auch als Bodenläufer baute, wobei durch einen seitlich am vorderen Kesselende angebrachten senkrechten Hebel die Vorderachse für verschiedene Bogenhalbmesser eingestellt werden kann“.
Dies Bild ist fast identisch mit dem auf dem Uraltprospekt, der im Karton des erworbenen Zuges lag.
Diese Indizien sprechen für eine Bing-Produktion.
Nun wird aber dieser Zug, bzw. die Lokomotive als Bodenläuferausführung im Battenbergkatalog,(Blechspielzeug Dampfspielzeug von Wolfgang Kaiser u. Carlernst Becker, ISBN3-87045-214-5, 1983, Battenbergverlag München) auf S. 270 in Abb. 367 Schoenner zugeschrieben.
In dem Heft Puppenmagazin "Puppen & Spielzeug" Heft 2, 1983, ISSN 0722-2408, wird auf dem Titelblatt just eben diese Bodenläuferlokomotive abgebildet mit der Beschreibung "Titelbild: Frühe Spiritus-Dampflokomotive (Bodenläufer), um 1885, Lutz Ellwangen, für Bing. Ungemarkt".
(Nota bene: Lutz Ellwangen!)
Eine nachvollziehbare Begründung für diese entschiedene Zuordnung wird nicht gegeben.
Einen kompletten Zug der diskutierten Ausführung mit Spurkranzrädern bot H.-D.- Lankes 2009 auf seiner 106ten Auktion unter der Katalog Nummer: 6255, Objektnummer: 229925 an.
(Mit freundlicher Genehmigung des Auktionhauses Lankes/Hof-Döhlau.)
Nachdem auf der zu Beginn des Beitrags vorgestellten Lokomotive das frühe Bing-Bavaria Signum vorhanden ist und auf der von H.-D. Lankes, Döhlau, angebotenen Lok nicht die Bing Bavaria aufgelötet ist, sondern bei genauer Betrachtung es sich bei diesem Logo um das Firmenzeichen der Spielzeugfirma Georges Carette (G.C.& Co) handelt,
(Paul Klein Schiphorst weist auf S.300 in seinem wunderbaren Bildband "Die goldenen Jahre der Blechspielzeugeisenbahnen 1850-1909", AS-Verlag Zürich 2002, ISBN 3-905111-81-0 das Carette-Logo nach, das identisch ist zu dem auf den folgenden Fotos der Lok des auktionierten Zuges abgebildeten),
liegt es nahe, spekulativ davon auszugehen, dass sich die frühen Nürnberger Tinplate-Firmen bei der Herstellung der "Handelswaren" gegenseitig insofern unterstützend halfen, als bestimmte Produkte bei einer Firma in Serie hergestellt wurden, um dann in Sinne von "Kompensationsgeschäften" untereinander ausgetauscht zu werden, wobei dann für den Handel und Weitervertrieb das jeweilige Firmenlogo der vertreibenden Firma aufgebracht wurde. Dafür spricht weiterhin die nachweisbare, enge Beziehung der Firmen Carette und Bing zueinander.
Bleibt übrig, Gustav Reder zuzustimmen: Es handelt sich um "Dampfbahnen Alt-Nürnberger Stiles".
Um den Informationsgehalt dieses Beitrages etwas zu heben, folgt eine Übersicht der unterschiedlich Messing-geprägten frühen Bing-Bavariae-Logos, (die stehende Bavaria mit Schild, Sockel und bayerischem Löwen) wie diese auf den frühen Spielzeugen aufgelötet, von ca. 1895 bis 1902, nachweisbar sind, wobei die Ausführung mit "Made in Germany"-Schriftzug die zuletzt verwendete Ausführung gewesen sein dürfte.
Abschließend eine Information des offiziellen Münchner Stadtportals bei "münchen.de" unter "Ruhmeshalle mit Bavaria":
Zitat:
"Die Bavaria gilt als Symbolgestalt und weltliche Patronin Bayerns. Somit gibt es in der Kunstgeschichte viele Darstellungen der kämpferischen Frauenfigur. Die riesige Statue an der Theresienwiese ist jedoch die bekannteste. Sie wurde zwischen 1843 und 1850 im Auftrag Ludwigs I. errichtet. Besondere Beachtung wurde damals dem Bronzeguss geschenkt, da dieses Projekt als technische Meisterleistung galt. Die Statue wurde vom Münchner Künstler Ludwig Schwanthaler, nach dem das angrenzende Stadtviertel Schwanthalerhöhe benannt ist, entworfen."
Schön ist es feststellen zu können, dass die Bayerische Patronin bis zum heutigen Tag Ihrer symbolisch "beschützenden Verantwortung" gegenüber den von der Fa. Gebr. Bing Nbg. gefertigten Produkten nachkommt.